Artikel vom 29.07.2010




Abwasserzweckverbände müssten als Körperschaften öffentlichen Rechts im Beitrags- und Gebührenrechtsstreit eigentlich eine Position einnehmen, die quasi "neutral" darauf achtet, dass ein Ergebnis "objektiv" richtig unter Berücksichtigung von Für und Wider gefunden wird. Sie müssten daher auch solche Argumente einbringen, welche einem Kläger nützen, wenn sie als objektiv "wahr" erkannt werden. Wer solche Verfahren aber beobachtet, stellt rasch fest, dass die von Spezialisten beratenen Verbände nicht etwa unter dem Gesichtspunkt der Neutralität agieren sondern prozesstaktisch in einer Weise, dass das im Beitragsbescheid vorweggenommene Ergebnis "auf Biegen und Brechen" im verwaltungsgerichtlichen Verfahren "gehalten" werden kann. Nützliches wird vorgetragen und weniger nützliches wird entsprechend bewertet und ohne Not nicht zwingend thematisiert. So erklärte unlängst ein Verbandsgeschäftsführer einer Bürgerin unverblümt das Ziel seines Verbandes im anstehenden Verfahren: "Wir wollen gewinnen und für sie wird es teuer werden." Er sagte also nicht: "Wir wollen prüfen lassen, ob uns nicht wirklicher ein Fehler mit Auswirkungen unterlaufen ist." Tatsächlich hatte der Verband dort Bescheide auf der Grundlage der rechtlich zulässigen Bebauung der Grundstücke erhoben, hingegen die Kalkulation aber auf der Grundlage der tatsächlichen Bebauung erstellt. Dass diese Kalkulation zu fehlerhaften Ergebnissen führen musste, war offenkundig. Dennoch war für den Verbandsgeschäftsführer zunächst klar, dass er die Verfahren am Ende "gewinnen" will und entsprechend agierte der Prozessvertreter im Verfahren aggressiv und warf der Klägerseite "Spekulation" vor. Die von einer Behörde eigentlich einzufordernde "Neutralität" kann in der Praxis in diesen Fällen nicht mehr festgestellt werden. Mit Recht hat das Bundesverwaltungsgericht daher in scharfen Worten schon einmal die Justiz in Sachsen-Anhalt aufgefordert, Vorträge von Behörden und Verbänden im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht etwa zu privilegieren sondern als schlichten "Parteivortrag" zu werten (9 C 5.06 vom 11.07.2007). Offenbar ist diese berechtigte Mahnung nicht bei allen Gerichten im Lande angekommen. Stattdessen räumen sie dem Vorbringen eines Verbandes in aller Regel einen "Vertrauensvorschuß" ein.

"Als Richter muss ich doch den vom Verband im Verfahren vorgelegten Zahlen ein gewisses Vertrauen entgegenbringen dürfen!" Zustimmungssuchend versuchte sich unlängst der Vorsitzende der 4. Kammer des VG in Halle/Saale dafür zu rechtfertigen, dass er den Antrag eines Klägers auf Vorlage der Berechnungsunterlagen und nach plausibler Darstellung der vom Beklagten vorgelegten neuen, drastisch erhöhten Prognosekosten für künftig zu erschließende Gebiete mit dem Argument ignoriert hatte, allein der zeitliche Ablauf mache doch wohl eine spätere Prognose plausibler als eine frühere. Verfahren würden "ausufern", wenn verlangt werden könnte, dass jede neue Zahl, die der Verband in einem Verfahren beitragssatzsichernd einbringt, vom Kläger angezweifelt werden könnte und einzeln überprüft werden müsste.
Der Richter erklärte, es gebe nun mal keinen "gerechten" Beitragssatz, von dieser Vorstellung müsse man sich lösen und entsprechend könne der Prüfauftrag eines Gerichts auch nur verstanden werden.

Im hier geschilderten Verfahren war ein Verband im Rahmen eines Beitragsprozesses in Bedrängnis geraten, weil sich herausgestellt hatte, dass nicht beitragsfähige Kosten in zweistelliger Millionenhöhe in die Kalkulation eingestellt waren. Es ging zum Teil um fehlerhafte Abgrenzungen von Hausanschlusskosten zu den beitragsfähigen Kosten und zum Teil um die unzulässiger Hereinnahme von Kosten für kostenfrei übertragene Erschließungsgebiete ohne wirksame Ablösevereinbarung. Der beklagte Verband hatte mit Blick auf die Privilegien der Ergebnisrechtsprechung in Sachsen-Anhalt reagiert: Er erhöhte die Prognosekosten drastisch, erhöhte den Anteil von Baunebenkosten von 12 auf 17 %, fügte noch rasch "nachträgliche Hausanschlußkosten" trotz 100%iger Erstattung durch die Eigentümer mit einem Prozentsatz als beitragserheblich ein und verminderte die beitragsrelevanten Flächen gegenüber früheren Zahlen um mehr als 20 % mit dem Ergebnis, dass der Beitragssatz von 4.- €/m² trotz aller Mängel in der Kalkulation dennoch gehalten werden konnte.

Den näheren Blick auf die neuen Prognosen erlaubte das Gericht dem Kläger indessen nicht. Denn, so die ausdrückliche Begründung des vorsitzenden Richters am Rande einer Verhandlung in einem Parallelverfahren: "Dann hätten Sie diese Zahlen ja doch nur erneut angezweifelt". Wenn es den „gerechten“ Beitragssatz nicht gibt, muss es wohl auch kein faires Verfahren geben.

Das Gericht müsse doch davon ausgehen können, dass ein Verband die maßgeblichen Zahlen nach bestem Wissen und Gewissen ermittle. Diese Auffassung zeugt nun allerdings von einer gewissen "Gutgläubigkeit" der Gerichte, die nicht zu rechtfertigen ist. Darin liegt eine wesentliche Crux in unseren Beitragsprozessen.

Gerichte in der Sackgasse

Die Verwaltungsjustiz des Landes befindet sich – wenn sie ein drohendes „Ausufern“ des Prozessstoffes beklagt - in einer selbstverschuldeten Sackgasse.

Die Rechtsprechung des OVG LSA, welches weitestgehende Spielräume für Einzeldarstellungen, Pauschalierungen und Schätzungen zugunsten der Verbände noch im gerichtlichen Verfahren eröffnet, ist offenbar nach Auffassung des Verwaltungsgerichts Halle nicht mehr praktikabel, wenn all diese Neuberechnungen auch noch einer Überprüfung unterzogen werden sollen (was ja wohl unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs selbstverständlich sein sollte). Das Gericht fürchtet ein „Ausufern“ des Prozessstoffes, dem Einhalt geboten werden müsse. Dies soll offenbar aber nicht durch Beschränkung der „Kalkulationsanpassung“ geschehen, sondern durch Einschränkung der Prüfungsrechte der Bürger im Prozess.
Übersehen wird dabei allerdings, dass die Verbände aufgrund der Rechtsprechung des OVG zur Beitragserhebungspflicht und des Grundsatzes der „vollständigen Beitragserhebung“ im Grunde sogar verpflichtet sind, von sich aus (und nicht erst in einem Verfahren zur „Rettung“ eines ins Wanken geratenen Beitragssatzes), die Zahlen einer permanenten Überwachung, Konkretisierung und Berichtigung zu unterziehen. Wenn also ein Verband aufgrund gewonnener Erkenntnisse der Meinung ist, die beitragsrelevante Fläche sei um 20 % zu reduzieren, dann darf er mit der Anpassung nicht warten, bis ein Bürger per Klage den Beitragssatz in Frage stellt und dieser dann ohne diese Anpassung gefährdet wäre. Er dürfte den hier erkannten Spielraum also nicht nur als „Korrekturreserve“ für etwaige Beitragsverfahren vorhalten. Vielmehr müsste er bei konsequenter Auslegung der Vorgaben des OVG LSA ständig solche Anpassungen aufgrund neuer Erkenntnisgewinne mit immensem Verwaltungsaufwand vornehmen und die Beitragssätze entsprechend verändern.

Gleiches gilt für die neuerdings vom VG Halle postulierte Möglichkeit der beliebigen Ersetzung einer Erstprognose durch neuere Schätzungen. Dies könnte durchaus dazu führen, dass dann im Halbjahrestakt die Beitragssätze anzupassen sind. Dass diese Vorstellung absurd erscheint und politisch in einem Verbandsgebiet gar nicht durchzusetzen sein würde, zeigt, wie weit die bisherige Rechtsprechung des OVG, die vor allem daran ausgerichtet zu sein scheint, den Verbänden im Beitragsprozess einseitig weitestgehende Verteidigungsmöglichkeiten zu eröffnen, in die Sackgasse führt. Es ist daher an der Zeit, auch aus Gründen der Prozessökonomie, zur Erkenntnis zu kommen, dass gerade wegen vieler Unwägbarkeiten einer Kalkulation diese nicht mehr beliebig nachjustierbar sein kann. Es kann im Grunde nur darum gehen, erkannte Fehler zu berichtigen, ohne den Verbänden beliebige Kompensationsrechnungen zu ermöglichen. Nur so ist die Prüfung einer Globalkalkulation für einen Bürger einigermaßen transparent, vorhersehbar und berechenbar. Die Auffassung der Gegenseite, dass umgekehrt die Prüfungsmöglichkeiten für den Bürger gekappt werden sollen, der sich mit einem einmal gefundenen Beitragssatz möglichst abzufinden habe, weil es „den gerechten“ Beitragssatz sowieso nicht gäbe, verstößt gegen die wesentlichen Grundsätze des Beitragsrechts und der Rechtsstaatlichkeit und erfordert eine gesetzliche Umstellung auf ein steuerfinanziertes Erschließungs- und Ausbauwesen.

Zwischenergebnis

In den neuerdings zunehmend auftretenden Tendenzen, den Verbänden erhöhte Spielräume und vereinfachte Verfahren zur Ermittlung des Beitragssatzes unter gleichzeitiger Beschränkung der Kontrollen dieser Zahlenwerke (Stichwort „Vertrauensvorschuss“) zeichnet sich eine Entwicklung ab, die erkennbar darauf hinausläuft, dem Beitragswesen fremde „steuer“-ähnliche Komponenten zuzufügen. Die Beitragssätze sollen weitgehend „vage“ festgesetzt werden können und einer Überprüfung im Ergebnis möglichst entzogen werden. Ein solch weitgehender grundsätzlicher Wandel wäre jedoch Sache des Gesetzgebers und nicht der sachsen-anhaltinischen Justiz, die sich ja selbst – anders als in Brandenburg - durch die den Verbänden eingeräumte extrem weitgehende Freiheit zur flexiblen „Anpassung“ ihrer Kalkulationen (bis hin zur Ersetzung einer Prognose durch eine andere, beitragssatzschützende neue Schätzung) je nach Prozessverlauf in diese schwierige Lage gebracht hat.

Mit anderen Worten: Schätzungen und Hochrechnungen dürften unter der Gesichtspunkten des Beitragsrechts nur in Ausnahmefällen zulässig sein, also in solchen, welche erheblich von den durchschnittlichen allgemeinen Problemen abweichen, welche mit der Errichtung einer Kalkulation für den betreffenden Maßstab im Allgemeinen immer verbunden sind.

Die Waage Justitias in Schieflage

Der rechtssuchende Bürger steht also im Beitrags- und Gebührenrecht auf so gut wie verlorenem Posten. Der faktische Wegfall des Amtsermittlungsgrundsatzes verlangt vom Bürger umfangreichste Recherchearbeit und Detailwissen. Anders als die Gerichte kommt er aber an die entscheidenden Informationen nicht ohne Schwierigkeiten heran. Schon das herausgeben der Kalkulationen erweist sich als problematisch. Dem nicht anwaltlich vertretenen Bürger zeigen Verbände oft die kalte Schulter und ermöglichen mit Mühe die reine Einsicht in ihren Räumen. Kopien werden tunlichst nicht ausgegeben, die Einsicht in Sekundärmaterial wie Bauabrechnungen, Prüfbescheinigungen, Abnahmeprotokolle, Ausschreibungen etc, häufig verweigert.

Hat der Bürger unter großen Mühen aber das Material in Händen, muss er dieses unter hohem zeitlichen Aufwand digitalisieren, um eine Analyse zu ermöglichen. Verbände haben nicht nur einen unerhörten Informationsvorsprung, sie verfügen über die Software, über alles Datenmaterial, über personelle, sachliche und finanzielle Ressourcen und sie beschäftigen notfalls auch mehrere Anwalts- und/oder Ingenieurbüros, lassen ihre kaufmännischen Abteilungen im Prozess notfalls wochenlang an nichts anderem arbeiten, um Wege zu finden, am Ende mit Hilfe der „Ergebnisrechtsprechung“ nicht etwa ein objektives Ergebnis zu finden, sondern doch noch nach Möglichkeit zu „gewinnen“.

Hat ein Bürger trotz dieser erheblichen Ungleichgewichte aber dennoch Fehler und Versäumnisse aufgedeckt, dann hat er mit der Voreingenommenheit einer Justiz zu kämpfen, die nicht nur glaubt, sie müsse den Verbänden einen „Vertrauensvorschuß“ einräumen, sondern die im Verfahren den Verbänden grotesk erweiterte Berechnungsspielräume zuweist bis hin zur Ersetzung von einer Schätzung durch eine neuere und die das Überprüfungsanliegen eines Bürgers dann mit dem Hinweis auf ein drohendes Ausufern des Prozesses zurückweist. Die von der Justiz seit einigen Jahren ebenfalls propagierte weitgehende faktische Abschaffung der Verjährung von Abgabeforderungen und der damit verbundenen quasi-Aufgabe des rechtsstaatlichen Prinzips der Rechtssicherheit, sei nur noch ergänzend am Rande erwähnt.

Der Verdruss der Betroffenen ist mehr als nur zu verstehen. Er befällt auch diejenigen, welche als „Organe der Rechtspflege“ hautnah miterleben, wie sehr die Waage der Justitia sich inzwischen geneigt hat und wie massiv offenbar fiskalpolitisch orientierte Erwägungen die abstrakt-rechtstaatlichen überwiegen. Es verursacht mehr als nur ein ungutes Gefühl. Es weckt die Sorge darüber, ob wir nicht inzwischen dabei sind, den Begriff der Rechtsstaatlichkeit in einer Weise obrigkeitsstaatlich umzugestalten, dass Verwaltungshandeln geringerer Gegenwehr ausgesetzt wird. Der oft propagierte mündige Bürger soll sooo mündig nun auch wieder nicht sein und vor allem nicht über zu viel Wehrhaftigkeit und juristische Waffen verfügen. Stumpf sei das Schwert und gering die Gefahr eines Erfolges. Die Verbände müssen sich kaum fürchten. Wie groß der Schaden aber im Bewusstsein der Bürger am Ende sein wird, ist derzeit kaum abzuschätzen.

Wolf-Rüdiger Beck